Die politische Krise: Ein besseres Europa fängt zu Hause an

Krise auf Pump: Die EU muss ihre Finanzprobleme nachhaltig lösen.
Bild: Michael Mol, Lizenz: CC-BY-NC-SA

10. Juli 2012
Rainer Emschermann
Da Marktreformen und Haushaltskonsolidierung auf zunehmende politische Widerstände stoßen, ist es nicht wirklich verwunderlich, dass der Ruf nach „mehr Europa“ lauter geworden ist. Auch wenn dieser Eifer für das europäische Projekt zu begrüßen ist, scheint er doch vor allem motiviert durch kurzfristige Interessen der politischen Klasse. Man sollte meinen, dass die wachsenden Zweifel über die Entschlossenheit einiger Eurostaaten, ihre Schulden zu bedienen, die jeweiligen Regierungen dazu brächten, schleunigst ihre Verlässlichkeit unter Beweis zu stellen, indem sie sich an Bedingungen halten und ihre fiskalische Glaubwürdigkeit festigen. Doch weit gefehlt:

Die Finanzkrise als politische Krise

Nachdem die griechische Regierung mehrere hundert Milliarden Euro über Notkredite beziehungsweise Schuldenschnitt erhielt, verlangt sie noch immer weitere Kredite, von denen sie genau weiß, dass sie sie nicht vollständig zurückzahlen wird. Die spanische Regierung leistet sich einen geringeren Mehrwertsteuersatz als Deutschland, während sie Geld von EFSF und EZB verlangt, noch dazu ohne Bedingungen. Zudem hat sie ihr eigenes Defizitziel widerrufen und die Rekapitalisierung ihrer Banken so weit verzögert, dass die letzten Oktober vereinbarte Frist ausgerechnet von denen nicht eingehalten wird, die das frische Kapital am meisten benötigen.

Aufgrund der zunehmenden Widerstände gegen den Reformprozess hatte die italienische Regierung hinter verschlossenen Türen vorgeschlagen, die EZB solle – unter Billigung der Verletzung des EU-Vertrages – den italienischen Haushalt direkt aus der Druckerpresse heraus finanzieren; letztlich ermächtigte dann der Europäische Rat den ESM im Grunde dasselbe zu tun. François Hollande möchte die Sorgen um den aktuellen Kontostand und die öffentlichen Schulden seines Landes, die gravierender sind als die Italiens, einfach ignorieren. David Cameron, der auch für die enormen südeuropäischen Investitionen steht, die von Europas größtem Finanzzentrum London gehalten werden, verlangt von Deutschland, für die Schulden der Eurozone zu haften. Zugleich lehnt er es jedoch ab, auch nur einen Penny dazu beizutragen.

Angela Merkel, die in ganz Europa Sparsamkeit fordert, hat in sieben Jahren an der Macht selbst keinen Eifer in auch nur einer einzigen solchen Reform gezeigt. Schließlich ist fraglich, ob die EU-Kommission von den Märkten noch als glaubwürdiger Garant des Fiskalpaktes und der EU-Finanzen angesehen würde, nachdem diese Institution daran mitgewirkt hat, die No-Bailout-Klausel in allen Aspekten bis auf die Form zu kippen und zudem weiterhin eine umfangreiche Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone vorschlägt. Glaubt immer noch jemand, dies sei eine Finanzkrise? Es ist eine Krise der Politik.

Entschlossene Konsolidierung

Solange Regeln ständig in Frage gestellt werden, muss man potenziellen Kreditgebern, sowohl privaten als auch öffentlichen, ihre Zögerlichkeit nachsehen. Sicher, es tut weh, wenn Zinsen auf den Status quo ante zurückfallen, nach einer Dekade des billigen Geldes, die beispielsweise Italien bei seinem Schuldendienst Jahr für Jahr um ca. Prozent seines BIP entlasteten. Doch um die Zinsen niedrig zu halten, muss man Entschlossenheit bei der Konsolidierung und beim Bedienen seiner Schulden zeigen. Es hat in Lettland funktioniert, es beginnt in Irland zu funktionieren und es ist in Italien noch nicht gescheitert. Mario Montis einzige Verbündeten sind die Finanzmärkte: Es gibt keinen Zweifel daran, dass Silvio Berlusconi mit der Sicherheit von Eurobonds innerhalb einiger Tage wieder zurück an der Macht wäre.

Die Krise resultierte aus zu niedrigen Zinsen und der Kollektivierung von Risiken mittels der wechselseitigen Abhängigkeiten der Finanzmärkte. Steuerzahlerinnen und Steuerzahler retteten Banken und Versicherung, mit einer starken Verzerrung zuungunsten einzelner Mitgliedstaaten.* Europas Aufschwung muss hier beginnen. Er sollte nicht auf dem frommen Wunsch beruhen, Spaniens Produktivität könne schlagartig um 20 Prozent zunehmen, um sie wieder mit dem Preisniveau in Einklang zu bringen. Vor dem Hintergrund der konstant zunehmenden griechischen und spanischen Auslandsschulden von über 90 Prozent des BIP wird eine Stabilisierung des Konsums diesen Zustand nur fortführen und zwar auf Kosten der Glaubwürdigkeit der Schuldner.

Das Ausscheiden eines Landes aus der Eurozone darf kein Tabu sein

Für einen dauerhaften Aufschwung müssen stattdessen die grundlegendsten Anreize wiederbelebt werden: Märkten und Zinsen muss es erlaubt sein zwischen schlechten und guten Risiken zu unterscheiden, zwischen Griechenland und Italien. Reformen müssen belohnt werden und Scheitern muss Konsequenzen haben, sonst wird letzteres externalisiert und in der Eurozone angesammelt. Das Ausscheiden eines Landes aus der Eurozone darf kein Tabu sein; ohne solch ein Tabu ist dies sogar weniger wahrscheinlich.

Der Fiskalpakt, der als Instrument deutscher Hegemonie angesehen wird, wird viel böses Blut hervorrufen, obwohl er, bei Lichte betrachtet, ein Papiertiger ist. Der Juni-Gipfel, der wieder einmal zuvor vereinbarte Regeln aufweichte, vermittelte einen ersten Einblick, wie die Dinge in der politischen Realität funktionieren werden. Letztlich werden nämlich, wie schon beim Stabilitätspakt, auch die Regierungen der nördlichen Länder den Gegebenheiten kurzfristiger Wahlzyklen erliegen. „Mehr Integration“ wäre jedoch weit davon entfernt, jenes Mittel zu sein, das die Finanzmärkte beruhigt, sofern es zum Preis eines fortgesetzten Auseinanderklaffens zwischen politischer Verantwortung und finanzieller Haftung käme. Vielmehr würde diese gefährliche Schere die EU schwächen – vielleicht sogar tödlich.

Keine Solidarität auf Pump

Dies alles bedeutet nicht, dass es keine Solidarität geben könnte oder sollte. Aber sie darf nicht auf Pump sein. Besser wäre es, die als sichere Häfen angesehenen Länder wie Deutschland würden den in Not geratenen Partnern zeitlich befristete Zinszuschüsse gewähren – Zuschüsse, keine Darlehen. Dies würde Anreize zur Konsolidierung aufrechterhalten und gleichzeitig kurzfristige Hilfe ermöglichen. Zudem sollten Banken zu einer Rekapitalisierung gezwungen werden, um ihre Kapitalquote von 9 Prozent auf beispielsweise 18 Prozent zu erhöhen. (Zum Vergleich: Der türkische Bankensektor verfügt über eine durchschnittliche Kapitalquote von 15 Prozent.) Richtig, dies würde den Großteil des Kapitalwertes der derzeitigen Aktionäre vernichten. Doch in einer Situation, in der die gesamte ökonomische und politische Architektur Europas auf dem Spiel steht und der Steuerzahler bereits erhebliche Leistungen zur Bankenrettung übernehmen musste, erscheint dies auch rechtlich als durchaus vertretbar.

Diese Rekapitalisierung, entweder mit privatem Kapital oder mithilfe des ESM (über 9 Prozent und unter strengen Bedingungen), muss Hand in Hand gehen mit der Abschaffung von falschen Anreizen im Rahmen des Basel-Abkommens, die den Besitz öffentlicher Anleihen für Banken attraktiver machen als die Kreditvergabe an die Privatwirtschaft: Es ist nicht Sache der Banken, Regierungen liquide zu halten. Die Bürgerinnen und Bürger können dies selbst tun, da die Kreditrisiken öffentlicher Schuldner recht transparent sind. Banken hingegen sollten Wachstum im Privatsektor finanzieren. Des Weiteren müssen Banken gezwungen werden, Portfolio-Risiken breiter zu fächern, so dass die Interdependenz zwischen Regierungen und „ihrem“ Bankensektor – und damit auch die Ansteckungsgefahr – durchbrochen wäre, so wie es in einem europäischen Binnenmarkt der Fall sein sollte. Zu guter Letzt sollten die internen Abläufe im EZB-System in einer ähnlichen Weise überprüft werden, inklusive länderspezifischer Kreditbremsen, höherer Abschlagszahlungen bei Hypotheken usw.

Zu viele große Ideen, zu wenig Taten

Um die Krise zu überwinden ist kurz gesagt die Formulierung eines mittelfristigen Ziels notwendig, das die ökonomischen Ursachen beseitigt, die in die Krise geführt haben. Nun mag man sich fragen, warum all dies nicht passiert. Die wahrscheinlichste Erklärung ist zugleich die beunruhigendste: Dass kurzfristige Interessen der politischen Akteure diejenigen der (zukünftigen) Steuerzahler ausstechen. Für einen Premierminister eines Krisenstaates ist es allzu verlockend, Außenstehende für die schmerzhafte Sparsamkeit verantwortlich zu machen und stattdessen nach Schmerzmitteln zu rufen.

Für die deutsche Kanzlerin ist es politisch unattraktiv, deutsche Solidarität mit Südeuropa steuerlich zu finanzieren, solange sie dies auch schmerzlos auf Pump tun kann. Solange der Premierminister der größten Steueroase der EU den Vorsitz der Eurogruppe innehat, solange Frankreichs und Spaniens Banken in höchstem Maße bedenklichen Risiken ausgesetzt sind und hoffen können, vom ESM gerettet werden zu können, solange der EZB-Präsident von Goldman Sachs kommt und solange der Kopf der IWF-Chefin von der Rückzahlung wackliger Kredite an Griechenland abhängig ist, wäre es naiv, entschlossene Aktionen gegenüber den Banken zu erwarten.

Darüber hinaus reiten zu viele Europäische Institutionen nur allzu gern auf einer Welle, die sie scheinbar zu mehr Einfluss bringt. Das Ergebnis ist, dass politische Energien zu einer Zeit verschwendet werden, in der sie besonders knapp sind. Es erinnert an das kürzlich wiederentdeckte Monty Python-Fußballspiel zwischen griechischen und deutschen Philosophen: zu viele große Ideen, zu wenig Taten, wenn es wirklich drauf ankommt.


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Rainer Emschermann ist Ökonom und Publizist. Übersetzung des Texts aus dem Englischen: Christian Schwöbel


* Nachdem die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Zuge der amerikanischen Finanzkrise schon deutsche Banken retten mussten, sind sie nun aufgefordert, ihren Beitrag zu weiteren Rettungspaketen quer durch Europa zu leisten.
 

Dossier: Europas gemeinsame Zukunft

Die EU steckt nicht nur in einer Schuldenkrise, sondern auch in einer Vertrauens- und Demokratiekrise. Gerade jetzt ist eine breite öffentliche Debatte über alternative Vorschläge zur Zukunft Europas gefragt. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte mit dem Webdossier zu dieser Debatte beitragen.